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Rendez-vous No. 1

«Kommen Sie nur rein. Die Wohnungstüre schliesst automatisch», ruft Maria Zehnder aus dem Wohnzimmer. Ihre 2,5-Zimmer-Wohnung in der Überbauung Elsässer- und Fatiostrasse sieht so neu und aufgeräumt aus, als wäre Maria Zehnder erst vor einem Monat und nicht vor zwölf Jahren eingezogen. Die freundliche Frau sitzt an einem Holztisch, auf dem der Roman «Script Avenue» von Claude Cueni liegt. An den Wänden hängen Bilder des Malers Celestino Piatti.

Wie Zufälle im Leben spielen

Maria Zehnder kennt sowohl den Autor als auch den Maler persönlich. Claude Cueni lernte sie durch eine philippinische Krankenschwester kennen, die mit der Frau des Autors befreundet ist. Die Bekanntschaft mit dem Maler ergab sich durch einen glücklichen Zufall: Seine Bilder faszinierten Maria Zehnder bereits in jungen Jahren. «Ich habe mal an einem Wettbewerb mitgemacht, bei dem man als ersten Preis ein Bild von Piatti gewinnen konnte. Ich gewann aber bloss den zweiten Preis – einen Büchergutschein», erinnert sie sich. Das Bild sei ihr nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Später zog sie im St. Johann in ein Haus. Und genau im gleichen Gebäude hatte ihr Lieblingsmaler sein Atelier. Sie lernten sich nach einiger Zeit wegen eines falsch geparkten Autos kennen und freundeten sich an. Maria Zehnder musste fortan keinen Wettbewerb mehr gewinnen, denn sie bekam alle Bilder, die in ihrer Wohnung hängen, vom Maler persönlich geschenkt. «Basel ist voll von diesen Geschichten», schwärmt sie.

St. Johann – Quartier des Herzens

Als sie 1975 mit ihrem damaligen Ehemann von Luzern nach Basel zog, war sie aber keineswegs begeistert von der Stadt. «Ich dachte: Oh nein, da bleibe ich nicht lange. Ich mochte das Panorama mit dem See und den Bergen zu gern.» Das änderte sich indes schnell: «Ich habe mich noch nie irgendwo so wohl gefühlt wie in Basel.» Vor allem das St. Johann hat es ihr angetan. «Aus dem Haus mit Piattis Atelier musste ich leider ausziehen, weil mir die Wohnung zu teuer wurde. Ich war dann gezwungen, ins Kleinbasel ins ‹Exil› zu gehen.»

 

Als Maria Zehnder von den Plänen der Stiftung Habitat an der Elsässer- und Fatiostrasse erfuhr, setzte sie sich mit Leib und Seele für den Neubau ein.

Sie gehörte zum festen Kern der sogenannten Atelier-Gruppe, die ihre Ideen in die Planung miteinbrachte. «Es schwirrte ein Haufen schöner Träume durch die Luft. Und viele davon erfüllten sich auch. Ich setzte mich in erster Linie dafür ein, dass die Wohnungen rollstuhlgängig wurden.» Ihr war ausserdem wichtig, in einer neuen Wohnung eine unterfahrbare Küche zu haben. Denn seit sie einen Rollstuhl benützt, erlebt sie das Kochen in einer «normalen» Küche als sehr anstrengend. Noch heute steht ihr das Glück ins Gesicht geschrieben, dass sich dieser grosse Wunsch erfüllt hat. «Sehen Sie, wenn ich auf den Knopf drücke, fahren alle Schränke hinunter.»

Den eigenen Weg gehen

Maria Zehnder war 22, als sie die Diagnose Multiple Sklerose erhielt. Die ersten Beschwerden traten während der Arbeit als Maschinenzeichnerin auf. «Grad zum Trotz» hätte sie kurze Zeit darauf geheiratet. Sie bekam zwei Buben, obwohl die Ärzte ihr davon abrieten. «Das Schöne am Jungsein ist, dass man sich von solchen Ratschlägen nicht beeindrucken lässt.» Sie ging damals mit ihrem Mann oft in die Berge, bestieg Viertausender oder machte Skitouren.

Über die Jahre nahm ihre Behinderung stark zu, und sie musste ihr Leben an die körperlichen Einschränkungen anpassen. «Leider kann ich an den gemeinschaftlichen Aktivitäten im Haus nur noch bedingt teilnehmen», bedauert sie. Sie unterstütze aber alles voll und ganz. Für die beiden Bienenvölker auf dem Dach setzt sie auf ihrem Balkon bienenfreundliche Pflanzen. Und zu ihren Nachbarinnen und Nachbarn und deren Kindern hat sie einen guten Draht. «Wir sind eine grosse Gemeinschaft. Der Umgang ist sehr freundschaftlich.»

Die grossen Zusammenhänge verstehen

In Maria Zehnders Wohnung gibt es keinen Computer und auch kein Handy. «Viele können sich das ja kaum vorstellen.» Ihr werde es aber nie langweilig. Sie sitzt gerne im Schlafzimmer am offenen Fenster und liest oder folgt einem Hörbuch. Die Nachrichten hört sie manchmal stündlich. «Ich bin ein politischer Mensch, ohne jemals in einer Partei gewesen zu sein.» Maria Zehnder interessiert sich für die grossen Zusammenhänge dieser Welt. «Um alles zu erfahren, was mich interessiert, müsste ich mindestens 200 Jahre alt werden.»

 

Text
Franziska Herren
wortgewandt
 

Fotos
Michael Fritschi
foto-werk.ch

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