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Eine inklusive Nachbarschaft
Rendez-vous No. 10

In einem unserer Wohnhäuser auf Erlenmatt Ost hat der gemeinnützige Verein abilia ein Zuhause für Menschen mit Beeinträchtigungen geschaffen. Um ihren unterschiedlichen Bedürfnissen gerecht zu werden, entwickelte abilia hier neue Wohn- und Beschäftigungsformen. Dominik Schultheiss, Bewohner, und Thomas Fischer, Mitglied der Geschäftsleitung von abilia, berichten von der Einzigartigkeit des Standorts.

«Damit ich hier einziehen konnte, musste ich viel üben. So habe ich zum Beispiel gelernt, das Frühstück selbst zuzubereiten, mich zu rasieren und mein Zimmer zu putzen.» So erinnert sich Dominik Schultheiss an die Vorbereitungen für den Umzug in das abilia-Wohnhaus auf Erlenmatt Ost. Der 41-jährige Riehener ist aufgrund einer angeborenen Sehbeeinträchtigung praktisch blind und liess sich dennoch den Wunsch nach mehr Eigenständigkeit und Selbstverantwortung im Alltag nicht nehmen. Dank dem neu geschaffenen Angebot der Aussenwohngruppen mit individueller Teilzeitbegleitung am Standort Erlenmatt ist dies möglich geworden.

Aktuell wohnen zehn Bewohnerinnen und Bewohner in dieser Form im Quartier. Dominik Schultheiss hat seit seinem Einzug weitere wichtige Schritte gemacht. Er erzählt: «Gerade übe ich, allein in den Coop einkaufen zu gehen. Ich habe auch gelernt, mich selbständig im Haus zu bewegen. Ich stehe am Morgen auf und arbeite dann zuerst in der Lingerie und am Nachmittag in der Produktion der Tagesstruktur.» Mit den drei Bereichen Hauswirtschaft, Produktion und Aussenangebote ist die Tagesstruktur ein bedeutsames Angebot, das am Standort neu geschaffen wurde.

Den Tag sinnvoll gestalten

In den Werkstätten der Tagesstruktur wird mit Holz und Papier gearbeitet. So entstehen beispielsweise Kränze aus Birkenrinde, Kerzenständer, Postkarten und Weintüten. Auch wenn keine Löhne bezahlt werden, bieten die Werkstätten ein arbeitsähnliches, sinnstiftendes Umfeld. Als Wertschätzung für die Arbeitsleistung erhalten die Klientinnen und Klienten Gutscheine. Dominik Schultheiss, der im Rahmen der Tagesstruktur schon unterschiedliche Dinge produziert hat, erläutert: «Man kann zwischen Kino, Zolli, McDonalds oder Manor wählen. Ich entscheide mich immer für den Manor, weil man da alles bekommt.»

Thomas Fischer, Mitglied der Geschäftsleitung von abilia, führt aus, dass von den vierzig Beschäftigungsplätzen der Tagesstruktur dreissig von Externen belegt sind. Er betont: «Wir sind keine Finkeninstitution, sondern betreiben eine richtige, wenn auch niederschwellige Werkstatt. Vor allem in der Weihnachtszeit kommen wir fast nicht hinterher mit der Produktion der Postkarten, weil sie so gut verkauft werden. Deshalb beginnen wir mit ihrer Herstellung bereits im Spätsommer.»

 

Neben der Tagesstruktur und den Aussenwohngruppen gibt es am Standort Erlenmatt auch zwei Hauptwohngruppen, deren 13 Bewohnerinnen und Bewohner rund um die Uhr Pflege und Betreuung erhalten. Der gemeinsame Standort führt dazu, dass viele Synergien genutzt werden können. Auch wenn die Mieterinnen und Mieter in den Aussenwohngruppen mehrheitlich selbstständig wohnen und leben, haben sie jederzeit die Sicherheit, dass eine Betreuungsperson in der Nähe ist. Ausserdem erhalten sie die Mittagessen von der Grossküche, die in erster Linie die Tagesstruktur und die Hauptwohngruppen versorgt. Nicht zuletzt beteiligen sich Klientinnen und Klienten sämtlicher Bereiche am Wäschewaschen für den ganzen Standort.

Nachbarn wie alle anderen

Der Aufbau dieser wertvollen Synergien im abilia-Wohnhaus hat viel Zeit gebraucht und erst mal chaotisch begonnen. Bis die Mitarbeitenden gefunden und die Teams gebildet, die Konzepte und Abläufe erarbeitet und die Wohnplätze belegt waren, habe es über drei Jahre gedauert. Nun, fünf Jahre später, fasst Thomas Fischer überaus positiv zusammen: «Es war ein herausforderndes Pilotprojekt, die Tagesstruktur, die Aussenwohngruppen und die Hauptwohngruppen für junge Menschen mit besonderem Begleitbedarf am selben Standort aufzubauen. Es ist uns jedoch gut gelungen, Nischen zu gestalten, die den Bedürfnissen der Klientinnen und Klienten entsprechen und in denen sie sich wohl fühlen und entfalten können. Deshalb ist Erlenmatt Ost für uns ein Erfolg.»

Das Miteinander macht nicht an den Wohnungstüren halt. Thomas Fischer, der bereits zwanzig Jahre bei abilia tätig ist, sieht die Einzigartigkeit der Inklusion im gesamten Wohnquartier: «In der Erlenmatt Ost gehören wir einfach dazu. Wir sind Nachbarn wie alle anderen auch. Das habe ich noch nie vorher erlebt.» Die Mieterschaft der Erlenmatt Ost sei kontaktfreudig, suche Neues und störe sich nicht, wenn etwas oder jemand nicht ins Schema passt – wie die Klientinnen und Klienten der abilia. Dafür übernehmen diese auch gerne Verantwortung in der Nachbarschaft. So kümmern sie sich einmal wöchentlich um die gemeinsamen Hühner, übernehmen im Abonnement unentgeltlich das Recycling, befreien das Areal von Littering und wischen die Wege. Der Standortleiter resümiert: «Erlenmatt Ost ist wie ein Dorf. Im Innenhof kann man unbesorgt die Kinder spielen lassen und kennt und unterstützt sich gegenseitig. Das ist Lebensqualität.»

Text

Viviane Herzog

wortgewandt.ch

 

Fotos

Michael Fritschi

foto-werk.ch

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