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Das Konzept der 10-Minuten-Nachbarschaften als Ausgangspunkt für den politischen Aushandlungsprozess

Viele Arbeitsplätze, aber zu wenig und zu teurer Wohnraum für die Bevölkerung: Das heutige Problem der Ballungszentren betrifft auch den Stadtkanton Basel. Soll Wohnraum nicht zum Luxusgut werden, sind durch die Politik effektive und nachhaltige Massnahmen zu treffen. Eine Auslegeordnung von Sibylle Wälty.

Veränderung Einwohnende, Haushalte, Beschäftigte und Immobilienpreise

Fakt ist: 2020 lag in Basel-Stadt die Zahl der Einwohnenden immer noch 13 Prozent tiefer als 1965, die Anzahl der Haushalte hingegen stieg von ca. 80‘000 auf ca. 100‘000. Grund: Vor knapp 60 Jahren lebten durchschnittlich 2.7 Personen in einer Wohnung, heute sind es noch 1.9. In derselben Beobachtungsperiode stieg die Beschäftigtenzahl allerdings um 67 Prozent. Immer mehr Beschäftigte bei gleichzeitig mangelndem Wohnraum heizen die Nachfrage an und damit auch die Preisentwicklung. Wohneigentum im Kanton Basel-Stadt hatte in den letzten 20 Jahren einen überdurchschnittlichen Wertzuwachs, die Preise haben sich mehr als verdoppelt.

Sinkende Leistbarkeit und Gentrifizierung

Auf dem freien Immobilienmarkt in Basel-Stadt Wohnraum zu finden, ist einer immer kleineren sozialen Schicht vorbehalten. Auch der durch den gemeinnützigen Wohnungsbau zur Verfügung gestellte Platz reicht nicht – der Marktanteil der Genossenschaftswohnungen beträgt aktuell gerade mal 11%. Diese Entwicklung auf dem Wohnungsmarkt gilt als Nährboden der Gentrifizierung, und diese wiederum raubt einer Stadt ihre Lebendigkeit.

10-Minuten-Nachbarschaften fördern Wohnraum und Nachhaltigkeit

Um attraktiv zu bleiben, muss der Stadtkanton Basel mehr Wohnraum schaffen. Doch wie viel und wo? Nehmen wir das Beispiel der 10-Minuten-Nachbarschaften. Bei diesem Konzept steht statt Partikularinteressen die faire Bewertung der öffentlichen Interessen im Zentrum.

 

Immobilienökonomisch sieht es eine hinreichend hohe Dichte und ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Einwohnenden und Beschäftigten vor. Und mit genügend Wohnraum sinken dessen Preise, die üblichen Auswirkungen von Angebot und Nachfrage.

Merkmal einer 10-Minuten-Nachbarschaft ist ein Radius von 500 Metern, eine Distanz, die zu Fuss zu schaffen ist. In diesem Radius ist alles erreichbar, was es im Alltag braucht: Jobs, Wohnraum, grosse und kleine Detaillisten, Restaurants, Dienstleistungsbetriebe, Freizeitangebote und Zugang zu einem guten ÖV. In einer solchen Nachbarschaft wohnen idealerweise mindestens 10’000 Personen und arbeiten mindestens 5’000 davon vollzeitäquivalent. Das Resultat ist eine gesunde soziale Durchmischung, viel Leben und vor allem genügend Wohnraum.

 

Das Konzept der 10-Minuten-Nachbarschaft kann einen Ausgangspunkt beim politischen Aushandlungsprozess darstellen. Ob und wie konkret 10-Minuten-Nachbarschaften vollzogen werden, ist ein politischer Entscheid. Die Verantwortlichen erkennen mit dem Konzept jedoch die Auswirkungen ihrer Entscheidungen auf allen Ebenen des öffentlichen Interesses: sowohl sozial und ökonomisch als auch ökologisch. 

Lichtblicke

In Basel-Stadt gibt es bereits 10-Minuten-Nachbarschaften, in den Stadtteilen Gundeli und im Matthäus beispielsweise sowie ansatzweise am Ring und im St. Johann. Potenzial für weitere haben die Entwicklungsgebiete Klybeck-Kleinhüningen inkl. klybeckplus, Rosental und Volta Nord, St. Johann und Westfeld sowie Wolf oder Dreispitz und deren Nachbarschaften. Mit dem Objekt an der Markgräflerstrasse trägt die Stiftung Habitat bereits zu einer 10-Minuten-Nachbarschaft bei und mit der Aktienmühle an der Gärtnerstrasse 46 sowie diversen Objekten an der Hüninger- sowie Lothringerstrasse verfügt die Stiftung über weitere Projekte in aussichtsreichen Entwicklungsgebieten.

So gelingt die Transformation zu mehr Wohnraum

1.      Revision des kantonalen Richtplans: Er sieht bislang für Basel-Stadt ein zu tiefes Einwohnerwachstum im Verhältnis des Beschäftigtenwachstums vor und fördert so eine Gentrifizierung. Mit den aktuellen Vorgaben entsteht zu wenig Wohnraum, weshalb immer mehr Menschen ausserhalb wohnen müssen. Die Folgen sind eine fortschreitende Zersiedelung und zunehmender Pendlerverkehr in die Stadt in überfüllten Zügen und auf Strassen voller Stau.

2.      Im kommunalen Nutzungsplan ist eine Grundnutzung festzulegen, die eine sozial, ökologisch und ökonomisch nachhaltige Siedlungsentwicklung gewährleistet. Dafür müsste die Stadt Basel klären, gestützt auf eine umfassende und datenbasierte Interessenabwägung, wo im Verhältnis zum Arbeitsplatzwachstum genug Wohnraum entstehen kann.

Die Revision der genannten Pläne ist ein politischer Prozess, der mit der Bevölkerung partizipativ vollzogen werden muss. Die Behörden stehen in der Pflicht, datenbasiert und transparent über die Auswirkungen raumplanerischer Massnahmen zu informieren. Dann gelingt in Basel-Stadt ein Paradigmenwechsel hin zu einer ganzheitlich nachhaltigen Raumentwicklung.

Ausstellung und Foren zu 10-Minuten-Nachbarschaften und ihren Merkmalen

Ausstellung «Was wäre wenn»

25.11.2023–07.04.2024 Ausstellung «Was wäre wenn» im S AM Schweizerischen Architekturmuseum über verlorene, verneinte, versackte oder veränderte Architekturentwürfe in der Schweiz. Begleitende Publikation mit Essay von Dr. Sibylle Wälty zum Kapitel «verändert», darunter die im Blogbeitrag aufgenommenen Themen.

 

Forum Städtebau ‹Basel 2050› Dialogtage 2023 Dialog 17: Wohnraum sozialverträglich bauen und sanieren – wie und wie viel

08. September 2023, 14:30–16:00 Uhr, TransBona-Halle Dreispitz Basel-Münchenstein, Florenz-Strasse 13, 4142 Münchenstein / Eingang Helsinki-Strasse. Mit einem Kurzinput von Lukas Ott und Dr. Sibylle Wälty.

 

Forum Städtebau ‹Basel 2050› Dialogtage 2023, Dialog 25: Wie funktioniert die 15-Minuten-Stadt

20. Oktober 2023, 14:30–16:00 Uhr, Schiffsanlegestelle Westquai, Westquaistrasse 75, 4057 Basel / beim Dreiländereck und der Sandoase. Mit einem Input von Dr. Sibylle Wälty zur 15-Minuten-Stadt und zu den 10-Minuten-Nachbarschaften.

 

Wanderausstellung «10-Minuten-Nachbarschaften» in Basel

Der Standort Basel ist im Rahmen des Agora Wissenschafts-Kommunikations-Projekts «10-Minuten-Nachbarschaften» geplant. Start voraussichtlich im Winter 2024.

 

Dr. Sibylle Wälty ist Forschungsgruppenleiterin am ETH Wohnforum und lehrt u.a. an der ETH Zürich. Seit 2023 berät sie mit ihrem Start-​Up Resilientsy die Immobilienbranche und Planung in raumbezogenen Entwicklungs-​ und Rechtsfragen zum Vollzug des Raumplanungsgesetzes.

 

https://wohnforum.arch.ethz.ch/

https://www.resilientsy.ch

Was wäre wenn im S AM

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